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Kater nach der Jubiläumsfeier

Das Dreisäulenkonzept der Schweiz ist fünfzigjährig. Es ist trotz Veränderung der Gesellschaft und des Arbeitsmarktes gut gealtert, braucht jedoch an einigen Stellen eine Verjüngungskur.

Jérôme Cosandey, Directeur romand und Forschungsleiter tragbare Sozialpolitik, Avenir Suisse

Vor mehr als einem halben Jahrhundert haben wir 1972 das Dreisäulenkonzept in der Verfassung verankert, und 2025 werden wir das Jubiläum zum vierzigjährigen Bestehen des Gesetzes über die obligatorische berufliche Vorsorge (BVG) feiern. Das Schweizer Vorsorgemodell fand damit viel Beachtung und wurde von der Weltbank als Vorbild präsentiert. Doch hat sich das Konstrukt in der Praxis und in der Politik bewährt?

Mit einer universellen AHV, die alle Bürger – nicht nur Erwerbstätige – versichert, mit der betriebsspezifischen beruflichen Vorsorge und der individuellen und freiwilligen Säule 3a kann die Schweizer Altersvorsorge differenziert auf die Bedürfnisse der Gesellschaft eingehen. Von einer breit gestützten Altersvorsorge profitieren immer mehr Menschen. Bezogen 2008 zwei Drittel der Neurentner eine Rente aus der ersten und der zweiten Säule, sind es 2019 drei von vier (vgl. Grafik). Auch die 1987 eingeführte Säule 3a findet mehr Anwendung. 2021 ging jeder zweite Neurentner, inkl. Frühpensionierte, mit einer solchen Lösung in Pension.

Reformfähig, aber langsam

Das Dreisäulenkonzept bietet auch eine Diversifikation der Risiken. Die Finanzierung der AHV hängt vor allem von der heimischen Konjunktur und Demografie ab, während die zweite und die dritte Säule Zugang zum globalen Kapitalmarkt ermöglichen – mit den damit verbundenen Chancen und Risiken. Die Diversifikation verleiht dem System Robustheit. Selbst in der Coronapandemie oder beim Markteinbruch nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine war das System zwar geschwächt, aber stets genügend finanziert.

Die grundsätzlich positive Bilanz der vergangenen Jahrzehnte darf jedoch den Handlungsbedarf nicht ausblenden. Gesellschaft und Arbeitswelt haben sich stark verändert, Anpassungen in allen Säulen waren nötig. Doch genau das Dreisäulenkonzept steigert die Reformfähigkeit des Systems. Blockaden, wie sie z. B. in Frankreich dieses Frühjahr stattfanden, wo die Anpassung der Altersvorsorge einzelner Gruppen das ganze Land lahmlegte, kommen in der Schweiz nicht vor.

«Unterschätzt wurde jedoch vielleicht der Finanzierungsbedarf im hohen Alter.»

Unbestritten ist: Die letzte Reform der ersten Säule brauchte beinahe ein Vierteljahrhundert. Die Angleichung des Frauenrentenalters an dasjenige der Männer war umstritten und mobilisierte die Politik stark. Doch in dieser Zeit konnte die dezentral organisierte zweite Säule laufend aufdatiert werden. Die paritätisch besetzten Stiftungsräte haben die technischen Parameter an die Demografie und die Arbeitswelt angepasst. 91% der Pensionskassen haben unterdessen einen Umwandlungssatz unter 6,8%. Den Koordinationsabzug, der die Vorsorge von Teilzeitangestellten schwächt, haben 88% der Kassen flexibilisiert oder ganz abgeschafft.

In der dritten Säule wird die starre Einschränkung, wonach Beiträge nur in einem gegebenen Jahr eingezahlt werden dürfen, dank der 2020 vom Parlament angenommen Motion Ettlin hoffentlich bald aufgeweicht. Trotz Zusatzfinanzierung aus der Staf-Reform 2019 (2 Mrd. Fr. pro Jahr über Lohnprozente) und 2023 aus der AHV-21-Reform (bis 1,5 Mrd. Fr. pro Jahr über Mehrwertsteuer) ist die nachhaltige Finanzierung der AHV noch nicht sichergestellt. Gemäss dem Bundesamt für So­zialversicherungen klafft 2033 beim Umlageergebnis ein Defizit von 3,4 Mrd. Fr. Die anstehende Volksinitiative «für eine 13. AHV-Rente» würde zudem die Ausgaben der AHV um 8% erhöhen und den ­Finanzierungsbedarf vergrössern. Eine Reform ist so oder so unausweichlich.

Auch bedingt der Entscheid des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs von letztem Februar eine Anpassung der Witwen- und Witwerrente. Die heutige Regelung stellt Witwer deutlich schlechter als Witwen. 98% der Leistungen werden infolgedessen an Frauen ausgezahlt. Dabei erhalten auch kinderlose Frauen eine lebenslange Rente. Die Aufhebung dieser Ungleichbehandlung darf nicht einfach das Leistungsniveau der Männer auf ­dasjenige der Frauen erhöhen. Vielmehr braucht es eine moderne, geschlechtsneutrale Lösung, die Väter und Mütter mit kleinen Kindern unterstützt und mit steigendem Kindesalter reduziert wird.

In der zweiten Säule stehen ebenfalls Reformen an. Über BVG-21 wird das Volk 2024 abstimmen. Wie erwähnt haben die meisten Kassen ihre Hausaufgaben eigenständig gelöst. Die Reform würde Verbesserungen für die 10 bis 15% übrigen Kassen erbringen. Der Preis dafür ist hoch. Um die Erwerbstätigen von einer systemwidrigen Umverteilung zugunsten der Rentner von 400 Mio. Fr. pro Jahr zu entlasten, werden sie doppelt so hohe Kosten im Umfang von 800 Mio. Fr. pro Jahr für die Übergangsgeneration tragen müssen. Nach fast zwei Jahrzehnten Absenz ist zudem die Inflation zurück. Doch das ist keine neue Situation für die Altersvorsorge. Am Ende der stark inflationären Siebzigerjahre wurde in der AHV mit dem Mischindex eine teilautomatische Indexierung der Renten eingeführt.

Die Erhöhung der Löhne und der Konsumentenpreise geht je zu 50% in die Berechnung ein. Dies führte auch in Jahren ohne Inflation zu steigenden Renten. 2023 liegt nun die minimale monatliche AHV-Rente 16% höher als zwanzig Jahre zuvor, während die Konsumentenpreise über diesem Zeitraum – inklusiv des Rekordjahres 2022 – um nur 11% gestiegen sind.

Inflation wurde eingepreist

In der beruflichen Vorsorge wird oft das Fehlen einer solchen automatischen Anpassung der Renten an die Inflation bemängelt. Das stimmt nur bedingt. Bei der Einführung des BVG ging man davon aus, dass Pensionskassen eine nominale Mindestrendite von 4% erwirtschaften können, um die Renten zu finanzieren. Dabei wurden eine Inflation von 2 bis 3% und eine Realrendite von Bundesobligationen von ca. 1,5% eingepreist. Den Verzicht auf eine Indexierung begründete man damit, dass Senioren mit steigendem Alter weniger ausgeben würden und eine moderate Abwertung ihrer Rente verkraften könnten. Die Inflation wurde bei der Einführung der zweiten Säule also nicht vergessen. Unterschätzt wurde jedoch vielleicht der Finanzierungsbedarf im hohen Alter.

Seit 2005 dürfen die Pensionskassen laufende Renten an die Preisentwicklung anpassen. Dies wäre heute wegen der ­Generationengerechtigkeit nur zu verantworten, wenn die Vermögen der Aktiven ebenfalls von der Teuerung geschützt würden, also wenn die Verzinsung ihrer Guthaben höher wäre als die Inflation. ­Alles andere ist eine kalte Enteignung der Aktiven zugunsten der Rentner.

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